13. Kapitel: Zur Praxis der Beratung (S.202 ff in Umgang 5. Aufl.)
1. Allgemeines
„Mit der Inanspruchnahme eines Beraters trifft der Ratsuchende selbst die alles in Gang setzende Entscheidung, wenn er sich als beratungsbedürftig erklärt. Indem er Hilfe sucht, dokumentiert er, dass er in einem bestimmten Problem in seinem Entscheiden und Handeln nicht ohne Hilfe zurechtkommt. In seiner Beratungsbedürftigkeit ist er nicht gänzlich entscheidungs- und handlungsunfähig, weil er sich sonst nicht für die Beratung entschieden hätte. Er erwartet, dass er sein Problem unter Einsatz psychologischen Wissens und psychologischer Verfahren gemeinsam mit dem Berater lösen kann, und beweist damit seine Beratungsfähigkeit“ (1).
Das von Ratsuchenden dargestellte Problem will in seinen Dimensionen erfasst werden, d.h. es muss analysiert und dann verstanden werden innerhalb der Lebensbezüge des Individuums (2). Die Erkundung eines Problems innerhalb eines Aktionsfeldes (3) im Zusammenhang mit den Beschreibungen von Folgen des Problems lässt erkennen, ob überhaupt eine Beratung innerhalb des Praxisbereichs der Beraterin oder des Beraters möglich ist (fachliche Kompetenz) und, wenn ja, welche Art von Beratung notwendig ist (sachliche Kompetenz).
Bei mehrdimensionalen Problemen ist die volle Anamnese angezeigt: Biografie: Die Ratsuchenden konzentrieren sich dabei auf sich selbst, ggf. können erste Zusammenhänge im Hinblick auf das Problem erkannt werden; Krankengeschichte: Hier können Zusammenhänge mit organischen Symptomen erkannt werden, so dass ggf. eine gründliche medizinische Untersuchung und Differenzialdiagnose indiziert ist (4); Kindheitserlebnisse (5).
Ziel dieser Anamnese ist die selbstkritische Reflexion der fachlichen Kompetenz und für die sachliche Kompetenz die Erarbeitung des unterbewussten Systems mit Hilfe der Lebensstilbildtheorie. Gleichzeitig lernen sich beide Partner/innen dabei kennen, was für die Beziehung in der Beratung von entscheidender Bedeutung ist. Deshalb spielen die Art des Erfragens, die Ruhe als Raum für Antworten und die Erfahrung mit den gerafften Angaben zur Biografie eine wichtige Rolle. Die Beratenden können ihr Gehör schärfen, auch ihren Blick auf Mimik und Gestik, um das Gegenüber in seiner Individualität zu erfassen. Die Ratsuchenden können sich entscheiden, ob sie dem Gegenüber ihr Vertrauen schenken möchten, indem sie selbst beobachten und erfahren können, wann und wie die Beratenden ihren Inhalten Verstehen entgegenbringen.
Wenn die Vergangenheit bei den biografischen Angaben der Ratsuchenden aufgezeigt wird, so ergeben sich daraus bereits weitergehende Fragen nach dem Wie, dem Wieso und dem Wofür. Doch die Beratenden müssen unterscheiden zwischen Fragen der Neugier, die den eigenen Gedankengang verlieren lassen, und den Fragen, die sich logisch ergeben, die der andere also eigentlich sich selbst stellt, ohne sie zu formulieren. Nur bei diesen Fragen stoßen wir tatsächlich auf Wesentliches in der Biografie, ohne dass uns unsere eigenen Vorausurteile den Blick versperren. Ungeduld würde das Gegenüber in eine Situation drängen, die an die biografischen Details gekoppelten Stimmungen verbergen zu müssen und damit sein „Sich-selbst-Verstehen“ zu behindern.
Wir müssen uns davor hüten, bereits in der biografischen Phase der Anamnese Lösungsmöglichkeiten für vergangene Konflikte anzubieten, was sowieso nur im Stil des Konjunktivs geschehen kann; wir würden sonst zu Fahrlehrern auf einem Parcours, den nur die Ratsuchenden wirklich kennen.
Wir folgen bei der Erfassung eines Problems dem Ansatz, „der von Ursachenzuschreibungen ausgeht“. (6) „Eine Möglichkeit für die Berater, Fehlschläge zu vermeiden, wäre dann darin zu sehen, dass sie nicht nur das Wissen, sondern auch gefühlsmäßige Faktoren berücksichtigen, die mit den Ursachenzuschreibungen beim Verständnis der Lebensereignisse zusammenhängen.“ (7) Hierbei ist die strikte Trennung von Ursachenbeschreibung und Schuldzuteilung durchzuhalten. „Die Art der zugeschriebenen Ursache entscheidet die Frage, ob überhaupt eine Änderung möglich und zweckmäßig erscheint.
Bei der Annahme einer nicht änderbaren Ursache hat die Beratung keinen Ansatzpunkt für Veränderungen, solange Ratsuchende an ihrer Überzeugung festhalten. Jeder Vorschlag eines Änderungsversuchs wird auf Ablehnung stoßen.“ (8) Hiermit ist die Trennung von Effekt und Intention angesprochen (9). Die Blickrichtung bleibt „auf die Voraussetzungen bei Ratsuchenden gelenkt, auf ihre Sichtweisen und Fähigkeiten, sich mit dem Anliegen auseinander zusetzen und Problemlösungen zu erreichen“. (10)
2. Grundzüge beraterischer Relationen
Grundlage jeder adversiven Beratung ist das Jasagen zur Menschlichkeit des Menschen. Noologisch orientierte Beratung beruht zusätzlich noch auf dem Wissen um die Heilungstendenz in jedem Menschen (11). Trotz der Andersartigkeit jedes Individuums sehen die Beratenden die Ratsuchenden gerade auch durch die Ähnlichkeit des Menschlichen als gleichwertig an. Beratung schließt nicht nur Sehen und Hören mit ein, sondern durch verbale Deutungen und Zeigungen von Zusammenhängen auch ein Handeln. „Eine Psychologie, die nur zuschaut (gesetzt, es gebe sie), könnten wir als Wissenschaft nicht anerkennen. Nur der Handelnde kann es (das Wesen des psychischen Vorganges) angemessen erfassen, begreifen ...“ (12)
Alle Ratsuchenden wollen gerade auch in ihrer Einzigartigkeit erkannt werden, selbst wenn sich ihre Wahrnehmung oft mit der Empfindung des Allein(gelassen)seins verbindet. Sie wissen um die Begrenztheit ihres Wissens, ihrer Handlungsfähigkeit oder auch ihrer Wahrnehmungsfähigkeit und wünschen sich nichts so sehr, wie teilzuhaben an dem erwünschten „Überwissen“ der Beratenden. Doch erweist sich eine adversive Zusammenarbeit in dem Pari des Wissens: Die Beratenden wissen zwar auf Grund ihrer fachlichen wie auch sachlichen Kompetenz eine ganze Menge, doch wissen sie nichts über die Ratsuchenden und die Zusammenhänge ihres Problems. Hier gilt es, das Selbstverständnis der Ratsuchenden im Hinblick auf ihre Selbstvorstellung durch Zusammenarbeit zu korrigieren, so dass das beratende Gespräch stets in der Dimension der Freiheit stattfinden kann. Den Ratsuchenden möchte deutlich werden, dass der Unterschied nicht so sehr bloß auf unterschiedlichen Wissenszuständen beruht, sondern in der Distanz zu dem Problem, die Beratende haben. Nur so kann verhindert werden, dass die Problematik nicht noch durch verweigerte Nähe in der Gleichwertigkeit vergrößert wird.
Die Beratenden müssen den Ratsuchenden gegenüber die Situation berücksichtigen, dass ein Erkanntwerden die Hilflosigkeit noch vergrößert, wenn sich nicht auch die Beratenden zu erkennen geben. Es gehört zum Kernbereich des Beratungsgespräches, dass die Ratsuchenden im Aha-Erleben erfahren können, dass sie die Lösung eigent-lich schon gekannt haben, dass sie ihnen irgendwie bekannt vorkommt. Nur so ist die Lösung eines Problems durch die Ratsuchenden selbst und genau mit ihren eigenen Möglichkeiten für sie durchführbar. Um dieses Ziel zu erreichen, sind beide auf eine Zusammenarbeit angewiesen, in der die Erarbeitung von Wissen um die wahren Zusammenhänge eines Problems durch Humor und durch die Trennung von Person und Sache (die Person ist nicht ihr Problem, sie hat eines oder mehrere) und durch die Verabwesung der Schuldfrage (VA-Folgen sind nicht Folgen persönlichen Versagens, und ein Konflikt ist keine Krankheit, schon gar keine ansteckende) das Besondere am Problem so aufzeigen kann, dass Ratsuchende an ihm lernen können, sich selbst zu verstehen.
Konfliktorientiertes Beraten wird bei Ratsuchenden auch verdrängte schmerzende Ereignisse aus der Kindheit, abgelehnte Anteile des eigenen Lebensstiles und unverarbeitete Ereignisse aus der eigenen Vergangenheit aufdecken. Um nicht nur über das zumutbare Maß einer solchen Analyse entscheiden zu können, sondern auch über die Tragfähigkeit des erwerbbaren Wissens, müssen die Beratenden nicht nur auf ihr Wissen und ihr Können zurückgreifen können, sondern auch auf ihre Bearbeitung eigener Lebensstileigentümlichkeiten und Gefühle. Deshalb setzt die Teilnahme an der Fort- und Weiterbildung eine Persönlichkeitsanalyse voraus. Nur so können die Lerninhalte von Anfang an auch auf die Arbeit an und mit sich selbst bezogen werden. Natürlich setzt die beraterische Tätigkeit eine Lehranalyse voraus, wie auch die Begleitung bis zum Abschluss durch Supervision (Kontrollanalyse) gewährleistet sein muss.
Die Verwendung der Sprache im Beratungsgespräch macht es notwendig, sich klarer und prägnanter auszudrücken, deutliche Bilder, verständliche Metaphern zu verwenden, um die zwischen Ratsuchenden und Beratenden unterschiedliche affektive Resonanz von Wörtern erfassen zu können. Deshalb gehört zur Weiterbildung auch die Möglichkeit, linguistische Phänomene und auch Regeln (z.B. bei sog. Sprachspielen) kennen und „mund“-haben zu lernen.
Die Möglichkeit des ironischen Sidesteps, jenes humorvolle (und eben nicht spöttische) Neben-sich-Stehen, und der humorvolle Blick auf die Fähigkeit der Ratsuchenden, dieses spezielle Problem entwickelt zu haben, geht einher mit überraschenden Wahrnehmungen von Bedeutungsnuancen von Wörtern. Auf diese Weise können vom Unterbewussten des Geistes gesteuerte Denkblockaden aufgehoben werden: Das Unterbewusste des Geistes (das Frontalhirn) kennt nicht alle Nuancen, die das Bewusstsein erfassen kann, es kennt nicht alle Sprachspiele, schon gar nicht den humorvollen Umgang darin. Es ist zu beobachten, dass bei einem in Deutsch (oder auch in anderen Sprachen) geführten Beratungsgespräch mit eine(r)m sog. Ausländer(in) Blockaden erst dann verstärkt auftreten, wenn diese Menschen das in deutscher (oder in einer anderen) Sprache Erfasste für sich in ihre Muttersprache übersetzen. Es gilt also, besonders auf die Atmosphäre zu achten, die mit wichtigen Begriffen bei Ratsuchenden verbunden ist.
In Anlehnung an Joseph Weiss (13) kann gesagt werden: Menschen, die eine Beratung möchten, die über ein freundschaftliches Gespräch hinausgeht, sind motiviert genug, bisherige Vorstellungen auch über Bord werfen zu wollen. Sie arbeiten daran eben auch mit dem beratenden Menschen, indem sie ihre Meinungen an ihm ausprobieren. Oft genug verbirgt Scham die freudige Erregung dieses Ausprobierens, bei Menschen weiblichen Geschlechts die Scham gegenüber den eigenen Gefühlen, bei Menschen männlichen Geschlechts eine Scham in Verbindung mit der Idee, dass ein Fehler unmännlich mache. Diese Scham führt dazu, dass ein Rat suchender Mensch sich auch verbirgt, wir sagen: sich verrätselt. Die Beratenden sollen das Rätsel lösen und sollen es doch wieder nicht. Die Ambivalenz in dieser Einstellung spiegelt jedoch das Eigent-liche im Individuellen der Ratsuchenden wider: Sie sind sich selbst fremd gerade in der problematischen Situation und ahnen doch, dass ausgerechnet hier in ihr Ureigenes zur Sprache kommen darf. Auf dieses Verrätselte müssen wir achten, handelt es sich dabei doch oft genug um die Zeichen der Anmut individuellen Menschseins. Das will heißen: Hinter der Problematik müssen wir die Schönheit von Menschen entdecken, also eben nicht dort, wo sie sie selbst in ihrer augenblicklich begrenzten Sicht auf sich selbst vermuten.
Wir müssen darauf achten, was aus dem Problem entstehen möchte an Klarheit, welche Lösung im Problem selbst aufleuchtet, wenn wir eben nicht nur auf das Problem schauen. Eine bloß nüchtern pragmatische Betrachtungsweise eines Problems belässt uns sowohl in der Rolle von Zuschauenden als auch in der Rolle scheinbar unempfindsamer Funktionäre in Sachen Empathie. Gerade das, was die Beratenden nicht verstehen, birgt den Schlüssel zur Tür der eigenständigen Lösung der Ratsuchenden: Nur diese kennen sich so gut wie kein anderer. Durch diese Sichtweise lässt sich verstehen, dass der Ursachenzusammenhang eines Problems eine Leidensgeschichte offenbart, die in sich die Heilungstendenz als Entfaltung des Inhaltes von Hoffnung gegen allen Augenschein aufzeigt. Hier ist der Ansatz für zukünftige Möglichkeiten zu sehen, in dieser unveränderlichen Erfahrung aus dem Fundus der Vergangenheit, viel schwerwiegendere Probleme überwunden zu haben. Und eben von diesen können die Ratsuchenden lernen.
Solche Erfahrungen widerfahren in einer lebendigen Stille, in Momenten des Innehaltens, ohne muskulöse Form der Gewalt in Gestalt von Worten und ohne nervale Form der Gewalt in Gestalt einer bedrückenden, humorlosen Atmosphäre. Die Einfachheit einer Lösung ergreift beide Partner im Beratungsgespräch, und beide können verstehen, wie leicht es deshalb ist, diese Einfachheit durch einfache Zweifel zu überdecken, durch Hinterfragen im „Ja, aber“ oder in den konjunktivischen Redewendungen des „was wäre denn, wenn“. Die Einfachheit der Lösungen entspricht dem frühkindlichen Zusammenhang der Entstehung von Lebensstilen; das Überdecken durch komplizierte Gedankengänge entspricht dem so genannten Erwachsenwerden, also eigentlich der anerzogenen Ummäntelung von Erfahrungen, deren Inhalte nicht für wahr genommen werden dürfen.
Die Suche nach den immanenten Lösungen in den Problemen folgt dem Gedanken der Einfachheit ihrer Entstehungszusammenhänge und geht einher mit einfachen Fragen, die Antworten anbieten und doch genügend Auswahl an Antwortmöglichkeiten ent-halten. Eine Frage der Beratenden kann oft wirkungsvoller den eigenen Handlungsspielraum der Ratsuchenden darstellen, als eine Antwort, die aus dem Fundus des Bisjetzigen der Beratenden kommt.
Die Fragen der Ratsuchenden müssen in ihrem individuellen Bedeutungszusammenhang erfasst werden und sind dann erst richtig verstanden, wenn ihr Zusammenhang deutlich ist. Dann erst können die Beratenden eine Stellung beziehen, die der Kritik der Ratsuchenden gegenüber zugänglich ist. Gerade die Stellungnahme in Bezug auf traumatische Erlebnisse der frühen Kindheit, die sich im gegenwärtigen Konflikt widerspiegeln, gibt den Ratsuchenden die Möglichkeit, das Traumatisierende in einer Erfahrung zu erfassen und die Folgen zu verstehen, damit nun im Erwachsenenalter andere Antworten auf Verwundungsassoziationen möglich werden.
Diese Stellungnahme ist als Bestätigung der Position der Ratsuchenden gleichzeitig die Möglichkeit zur Öffnung, zur Sicht auf andere Möglichkeiten, mit den problemwirkenden Herausforderungen umzugehen. Das problembehaftete Verhalten der Ratsuchenden möchte nicht nur korrigiert werden: es möchte auch verstanden werden, auch von dem/der Ratsuchenden selbst! Nur so kann eine mitmenschliche Wirklichkeit Raum gewinnen in der Beratung, die nicht auf ein Gefälle zu Ungunsten der Ratsuchenden zielt.
In einer unlösbar scheinenden Konfliktsituation reagieren Menschen erst einmal mit einer Selbstentwertung. Sie verwerten die defizitäre Situation, indem sie eigene Anteile übersehen (verwerfen), und halten Ausschau nach einem Erlöser. Die hierin erkennbare Projektion bezieht sich in aller Regel auf Menschen männlichen Geschlechts und auf die Erwartung eines von diesen angebotenen externen Paradieses. Darin zeigt sich die Schwere einer durch einen „Vater“ widerfahrenen Verwundung in aller Deutlichkeit (14).
Diese Selbstentwertung drückt sich auch in der Akzentuierung bei den Ausführungen der Ratsuchenden aus. Die Beratenden haben die Aufgabe, diesen Wertungen die Basis zu entziehen, indem sie den Unterschied zwischen „anders sein“ und „wert sein“ deutlich machen. Die moralistische Unterscheidung zwischen Gut (als ein Mehrwertsein) und Böse (als ein Minderwertigsein) ist anerzogen und ohne realen Inhalt in Bezug auf den Wert eines Menschen. Das Jasagen zur Menschlichkeit des Menschen beinhaltet die Gleichwertigkeit aller Menschen und verhindert als Effekt diese ver-götzlich(end)e Möglichkeit, die den Beratenden übermenschlich erscheinen lässt und die Ratsuchenden entmutigt, in diesem Falle starr werden lässt in Anbetracht der Bestätigung ihrer negativen Selbstvorstellung.
Das Wissen um die VA-Zusammenhänge und deren Zusammenhang mit dem erlebten Konflikt bietet den Ratsuchenden die Möglichkeit, sich selbst anzunehmen - einschließlich ihrer Probleme, wobei sie sich dabei dann eben nicht mehr mit ihnen zu identifizieren brauchen. Sie gewinnen Distanz zum Konflikt, wie die Beratenden ebenfalls. Und doch bleiben beide in einer Nähe aufeinander bezogen, die Raum lässt für die Wahrnehmung ihrer beider Freiheit.
Viktor von Gebsattel sprach einmal vom „nihilistischen Zug im Menschen“. Wir nehmen diesen Hinweis als Sprachspiel auf und sagen: Mit diesem Zug ist eine Ankunft bei sich nicht möglich, doch das weiß nur der Mensch, der ihn bereits kennt. Er ist die Folge der in der frühen Kindheit erfahrenen Ohnmacht, die zwischen Unterwerfung (Erhalt der Versorgungslage) und Freiheit nicht wählen durfte und so die eigenen Anteile zu einem „nihil“ werden ließ, zu einem „rien ne va plus“. Die im Erwachsenenalter möglich gewordene Akzeptanz dieser traumatischen Situation enthebt von der Sorge, wie es wohl weitergehen mag; die Distanz der Geschichte zeigt sich in der Distanz, die im Verstehen möglich ist. Und in ihr zeigt sich Raum für andere Möglichkeiten des Umgangs. Dieser Raum bietet gleichzeitig eine Begrenzung für den Konflikt, so dass eine Konfliktbewältigung durch die Grenzerfahrung als Sinnerfahrung möglich wird. In diesem Raum können Ratsuchende auf die Erfüllung frühkindlicher Wünsche verzichten, um ihre jetzigen Möglichkeiten zu erfassen und diese durch Probieren und Üben in ihre Handlungsfähigkeiten zu integrieren. Durch die Annahme des Augenblicks ihrer Gegenwart lernen sie, sich auf eine Weise selbst anzunehmen, die ihnen bisher verborgen gewesen ist. Dies bildet die Voraussetzung für ihre Entscheidungen, mit den Konflikten umzugehen, selbst wenn sie dabei Harmonieverluste im Umgang mit Menschen in Kauf nehmen müssen, denen gegenüber sie zuvor willfähriger gewesen sind.
Das Widerfahrnis der Selbstannahme lässt das Ja zur Menschlichkeit des Menschen wirken, ohne dass eine zustimmende Antwort von anderen abgewartet werden muss. Den Ratsuchenden erscheint dies, als steigerten sich ihre Schwierigkeiten noch (15); doch nehmen sie nur mehr wahr, was wirklich um sie herum geschieht, also auch all jenes, was sie geflissentlich im Sinne ihres unterbewussten Systems übersehen mussten. Die vergrößerte Wahrnehmungsfähigkeit wird zuerst also nicht als Hinweis auf eine erweiterte Handlungsfähigkeit genommen, sondern kann sogar Wut hervorrufen, da die scheinbaren Annehmlichkeiten des alten Lebensstils nicht mehr zu erwarten sind. Wut ist Mut, der noch nicht weiß, wohin er will. Diese Wut ist auch für die Ratsuchenden eine Herausforderung. Die Projektion auf die Beratenden lässt diese schlimmer erscheinen als alle verwundenden Menschen in der Vergangenheit. Dies ist eine Entscheidungssituation für beide, in der ganz deutlich die Freiheit aufleuchtet, sich nun so oder so zu entscheiden. Der Augenblick des Zögerns weist auf die Unverwundbarkeit der Freiheit (16).
Der Verzicht auf Erfüllung frühkindlicher Wünsche ist auch immer ein Verzicht auf Illusionen und per effectum Verzicht auf Abwehrhaltungen gegenwärtigen Herausforderungen gegenüber. Dies bedeutet immer auch ein Wagnis, das das „trauen“ voraus und das „lösen“ hernach hat. Hier treffen sich die Situationen der Gesprächspartner/innen in ihren eigentlichen Gemeinsamkeiten.
Da alle Ratsuchenden für alle Beratenden nicht einfach nur neu, sondern eben auch anders sind, müssen auch die Beratenden das Wagnis einer anderen Sicht auf sich nehmen und der Routine wehren. Die Lebensstilbildtheorie ist eine Möglichkeit, den Weg zum Individuum zu finden, sie bietet jedoch weder Schablonen noch Schemata, die aus der Theorie übertragen werden könnten auf die individuellen Ratsuchenden. Die Situation des Beratungsgesprächs ist jeweils unberechenbar, da die Führung des Gesprächs eben nicht identisch ist mit der Führung der Ratsuchenden. Deshalb sind Beratende angewiesen auf die Kenntnis der Inhalte des Selbstbewusstseins der Ratsuchenden, die eine Basis für dessen oben bereits erwähnte Lernfähigkeit bilden. Hier treffen sich die Konzepte der Ermutigung (Alfred Adler) und der Sinnfrage (Viktor Frankl): Nicht alles, was Ratsuchende können, ist dem Mut zuzuordnen, sonst verwechseln wir Mut mit Leichtsinn; nicht alles, was mutig scheint, ist auch sinnvoll. Um Mut in seiner Dimension der Treue (als Jasagen zur Menschlichkeit des Menschen) einer Sinnerfahrung zukommen lassen zu können, bedarf es der Erfahrung des Richtigseins, ggf. also der Aufhebung des Sowieso-Fatalismus (17). Gleichzeitig wird deutlich, dass auch die Beratenden in der Lage sein müssen, sich selbst in Frage stellen zu lassen durch die Andersartigkeit, durch die Neuheit der Konfliktsituation ihres individuellen Gegenübers. Hier liegt die Grenze der Autorität, die auch nicht durch noch so große fachliche und sachliche Kompetenz aufgehoben werden kann. Je klarer die Ratsuchenden dies erkennen, umso mehr gewinnen sie an bewusster Selbstständigkeit; je eher sie dies erkennen, desto größer wird ihre Bereitschaft, sich von der Identifizierung mit ihren Problemen zu lösen. Dabei sind Ratsuchende auch in der Lage, ihre von Sorge, vielleicht sogar manchmal von Trauer begleitete Wahrnehmung der Notwendigkeit, Illusionen aufzugeben, in Handlung umzusetzen, also Wut in Mut umzuwandeln, um sich neue Lebensräume zu erschließen, da ihnen die im Konflikt erkennbare, jedoch zuvor unbewusste Absicht offenbar wird, ohne sich schämen zu müssen, noch nicht einmal dafür, nicht schon eher und von allein den Zusammenhang verstanden zu haben.
Die Bereitschaft der Beratenden, sich in ihrem Bisjetzigen in Frage stellen zu lassen, lässt sie auch die Grenze ihres Könnens erkennen und mitteilbar machen (18). Der menschliche Umgang in der Beratungssituation ist zwar auch von definierbaren und erlernbaren Regeln geprägt, doch eben auch durch die reale mit-menschliche Gegebenheit personhafter Existenz und durch die Notwendigkeit, sich neuen Erfahrungen gegenüber zu öffnen, die die Bereitschaft weckt, die erlernten Regeln um der geistigen Öffnung willen zu durchbrechen: „Überall dort, wo wir auf Grund erlernter Methoden mit einem Menschen sprechen, kommen wir auf jenen unbedingten Grund, wo er unseresgleichen ist. Beides ist wahr, die Notwendigkeit der Technik und die Offenheit auf einen Geist, der alle technischen Regeln durchbricht.“ (19) Wer die Technik vergottet, stellt sie und auch sich selbst über andere Menschen. Beratung ist genauso wenig l'art pour l'art wie jeder andere Lernprozeß. Hier schließt sich der Kreis: Die Ratsuchenden haben einen Anspruch auf das Jasagen zur Menschlichkeit des Menschen und damit Treue zum i-Punkt, zum heilen Kern der Person und zur Heilungstendenz. Das schließt ein, dass nicht die scheinbare Dringlichkeit eines Problems die Füllung der Zeit diktiert - da bliebe weiterhin kein Platz für Ratsuchende -, sondern dass die Annahme der Zeit sich in der Geduld zeigt, die Menschen in ihrer Problematik duldet.
Geduld weckt die Zuversicht, das Problem doch noch selbst lösen zu können, trotz der durch Selbstabwertung angefärbten problematischen Situation. Erst wenn sich beide Partner/innen gemeinsam als Gegenüber der Zeit erleben, werden sie der Lösungsmöglichkeiten ansichtig. Sich diese Zeit zu lassen, zwingt niemanden in vorschnelle Überlegungen, vielmehr verkürzt Geduld die Beratungszeit dadurch, dass in der Duldsamkeit Raum für die Annahme des Augenblicks und damit für die Selbstannahme ist - und diese bringt die selbständigen Möglichkeiten zur Lösung von Konflikten zur Geltung. Mitunter wird ausreichende Zeit erst im Jenseits erwartet und dabei der Augenblick im Diesseits übersehen. Diese Entwertungen des Augenblicks sind die Kehrseite der mit den Konflikten verbundenen Selbstentwertung.
Der Satz „Ich kann nicht“, konstruiert zusätzlich eine Not, die die eigentlich erfahrene überdecken und gleichzeitig entschulden soll. Die Verabwesung der Schuldfrage lässt jedoch der Sinnfrage ihren Raum, in dem die Richtigkeit der eigenen Existenz erfahrbar und der Augenblick annehmbar wird. In ihm zeigt sich, was umgangssprachlich dann „Ergreifen des Augenblicks“ genannt wird: Die Sicht des Augenblicks öffnet den Blick der Augen für die Raumanteile, die konfliktfrei ausreichend Stoff für die Lernfähigkeit liefern. „Annahme heißt, dass man lernt, selber den Grund ... einer Not, der nicht im Widerspruch zu beseitigen ist, von der Liebe umfangen zu sehen.“ (20)