Umgang5, 3.Kapitel: 6.2. Erfahrungen nach der Geburt
Ein Kind, dieser Mensch, tritt nach der Geburt mit der ganzen Intensität von „leben“ und „fühlen“ in Erscheinung und gibt, und zwar wird dieses Geben dann bestimmt durch all das, was dieser Mensch pränatal, vor der Geburt, an Erfahrungen bereits gesammelt hat und natürlich nach Maßgabe des ganz persönlichen, des individuellen Mischungsverhältnisses, das alle Mischungsverhältnisse organischer Strukturen steuert. Diese lebendige Hingabe wird von der Physiologie, also der körperlichen Sinnorientierung der Physis, die Sinn und sinnlich verbindet, getragen, und zwar so, dass sich der Mensch dabei öffnet. Und dies Ereignis, dies ist ein Ereignis, dies Ereignis gehört als selbstverständliche Möglichkeit eines Menschen zum Ursprünglichen eines jeden Individuums, und es wird auch vor jeder Verwundungserfahrung wie selbstverständlich als Selbstverständnis dieses Menschen offenbar.
Erfahrungen nach der Geburt können so beschaffen sein, dass ein Kind lernen muss, eigene sinnvolle Anteile zu unterdrücken, um in der Familie zu überleben. Wir sprechen von einer Verwundung, von der Verwundungsatmosphäre (abgekürzt „VA“) und den VA-Tendenzen. Die Erziehung, durch die eine VA-Tendenz so agiert wird, dass ein aversiver Lebensstil als unterbewusstes System aufgebaut werden muss, bezeichnen wir als „schädigende Erziehung“ (sE), wobei wir trennen zwischen den erziehenden Personen (den traumatisierenden, schädigenden, verwundenden Erzieherinnen und Erziehern) und ihrem schädigenden Verhalten (der Sache)! Dadurch wird die Erkenntnis der VA-Tendenzen nicht zu einer Schuldzuweisung und das Wissen um die eigene Verwundung nicht zu einer Enthebung von Verantwortung. Gleichzeitig machen wir deutlich, dass die VA-Erfahrung auch nicht persönliche Schuld oder Makel und die VA-Folgen nicht Folgen persönlichen Versagens sind!
Die Fähigkeit, zwischen sich und den Eltern zu unterscheiden (und in der Folge davon zwischen Selbst und Nichtselbstigem, zwischen drinnen und draußen), ist in dem Maße eingeschränkt, wie die VA-Tendenzen das Kind in den Möglichkeiten dazu eingrenzen. Allgemein bedeuten Grenzerfahrungen Möglichkeiten, Sinn zu begegnen, Sinnerfahrungen zu machen. Wir sprechen deshalb sachgemäß und ohne Wertung vom „schädigenden Erzieher“, insofern wir das verwundende Verhalten im Hinblick auf den Umgang mit dem Kind meinen und die Eingrenzung von Sinnerfahrungen.
Eltern erziehen aus ihrer Selbstvorstellung heraus, die ihnen teils bewusst und unbewusst ist. Ihre Vorstellung von sich selbst und vom Kind ist in ihrem Umgang stets anwesend. Das Kind gerät in die Situation, diese Vorstellungen stützen zu sollen, da die meisten Eltern auf die Reproduktion ihrer eigenen Erfahrungen und der Stützung ihrer Schlussfolgerungen zielen. Dadurch werden sie zur pseudo-sinngebenden Instanz für das Kind (siehe weiter oben das Zitat von Weiss 1993, S.6 und die Zitate von Sampson hier unten).
Irrtümer bedeuten dem Kind unverarbeitbare Erfahrung, da es dafür in ihm kein Äquivalent gibt. So er-lebt das Kind solche Erfahrungen als gegen sich gerichtet. Die Fähigkeit zur Annahme einer VA-Tendenz und zu ihrer (selbst wieder irrtümlichen) Verarbeitung fördert jedoch auch die Möglichkeit, Überlebensstrategien zu internalisieren. Dies ist in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit eine evolutionäre Notwendigkeit zur Erkennung von Gefahren: schließlich waren die wilden Tiere und die Unbilden des Wetters vor dem Menschen da. Die unmittelbare Umwelt des Menschen bietet nicht nur Heimat, sondern eben auch Gefahren. Die Voraussetzung für einen Überlebensumgang mit den Gefahren können wir in den Möglichkeiten eines neugeborenen Menschen erkennen, mit Verwundungserfahrungen umzugehen, sich den Außenimpulsen gegenüber zu behaupten - u.a. auch durch Internalisierung gegen sich selbst gerichteter Tendenzen, die sich im eigenen Verhalten als Methoden abbilden.
„We know now that Freud's early view that infants have no primary, innate interest in reality is incorrect and promotes misleading intuitions about human motivations. The findings of contemporary research on infant development (e.g., Stern, 1985) are incontrovertible on this issue. Infants are keenly interested in their environment, and especially their / social environment, from birth. They are deeply engaged with social stimuli. Their interest in reality has all the characteristics of a drive. They seek sensory stimulation, they seek novelty, and they will do work to make a novel stimulus appear in their visual field. They have astonishing capacities, from the beginnings of life, to make sensory discriminations and to categorize their environment. They are, from birth on, theory builders: they form and test hypotheses about what is occurring in their world. They soon begin to develop representations of generalized interpersonal patterns“ (Harold Sampson „The Role of ‘Real’ Experience in Psychopathology and Treatment“ in „Psychoanalytic Dialogues“, 2(4): 509-528, 1992, S.511/512. Zitiert wird D.N.Stern: „The Interpersonal World of the Infant“ 1985).
„But what has this to do with our clinical observations and with psychopathology? We observe that people often manifest only limited interest in understanding their reality. They may actively distort it. They may behave unrealistically and irrationally; they may act peremptority on powerful urges of which they are unaware; they may develop bizarre symptoms. They may destroy themselves... My next thesis, based on Weiss’s theory, is that a person’s beliefs about his reality are a central, organizing factor in his mental life, and such beliefs underlie maladaptation and psychopathology“ (a.a.O. S.512).
„These analysts also showed that denials of reality and distortions of reality may be based not on primary instinctual wish-fulfillment or defenses against these wishes, but on motives serving adaptation, such as loyalty to parents, efforts to protect the parents, or efforts to continue to see the parents as good (Fairbairn, 1952; Sullivan, 1954, pp. 21-23)... According to Weiss (1990), a person works, from infancy onward, to understand his reality and to adapt to it. The child's first reality is that of himself and his parents. He acquires his first knowledge of himself and others in relation to them. This knowledge becomes organized intrapsychically as a system of beliefs, unconscious and conscious, about his reality“ (a.a.O. S.514. Zitiert wird W.R.D.Fairbairn: „Psychoanalytic Studies of the Personality“ 1952 und H.S.Sullivan: „The Psychiatric Interview“ 1954).
„Certain beliefs may be called pathogenic because they impair functioning. As we shall see, a person, because of such beliefs, may develop crippling inhibitions, may torment himself, may persist in infantile behavior, may act self-destructively, may express powerful rage or bizarre sexuality, and may develop disabling symptoms. There-fore, although pathogenic beliefs are theories about reality, they are by no means dry, lifeless, and academic to the person who holds them“ (a.a.O. S.515).
„Because pathogenic beliefs are acquired by inference from experiences, they may, because of differing experiences, link virtually any motive, / goal, or psychic state to a grim and constricting consequence. For example, depending on the child's interpersonal reality, a child may come to believe that if she is sexual toward her father, he will be disgusted with her or that he may lose control or that he will perk up, become less depressed, or that she will make her mother envious and angry“ (a.a.O. S.515f).
„Criticism of parents is often a progressive step toward a patient's understanding ‘that he suffered parental mistreatment, complied with it, and as a consequence developed the pathogenic belief that he deserved it’ (Weiss, in press)“ (a.a.O. S.524).
„Patients may criticize parents repetitively as an attempt to fight back against the unconscious belief that they themselves are at fault. The reason they do not make progress is that they continue to believe, in spite of blaming the parents, that they themselves are at fault. It is this problem they need help with, as illustrated in a case described by Weiss (1990) ...“ (a.a.O. S.525)