Umgang5, 3. Kapitel: 6.3. Zur Noologie der Verwundung
a) Nach der Geburt ist der Säugling im Hinblick auf seine Umwelt hochaktiv.
b) Die Umwelt beantwortet diese Aktivitäten; diese Antworten sind selbst aber wiederum vom Unterbewussten (im Hinblick auf eigene Fähigkeiten wie auf Meinungen über dieses Kind) angefärbt.
c) Für den Säugling ist die eigene Aktivität „selbstverständliche“ Intention, die nachfolgende Beantwortung Effekt, der auf die weitere Gestaltung der Aktivitäten Einfluss nimmt: das Kind speichert auch die Erfahrungen und die Erfahrung mit einer Erfahrung im Unterbewussten des Geistes (das im Frontalhirn sein Zentrum hat).
d) In dem Maße, in dem ein Effekt nicht zur ursprünglichen Intention des Kindes passt (also durch Irrtümer draußen Verwundungserfahrungen drinnen registriert werden durch die Folgen), wird das Kind andere Intentionen ausprobieren, bis eine erwünschte Wirkung eintritt. Diese Einpassungsfähigkeit des Menschen im Hinblick auf Lernfähigkeit und Internalisierung von Abwehrmöglichkeiten ist für die Spezies überlebensnotwendig gewesen.
e) Die Summe dieser - eben auch durch Verwundungserfahrungen qualifizierten - Rückmeldungen und Verarbeitungen führt zur Bildung des individuellen Deutungssystems, das ich „Lebensstil“ nenne (dieser Begriff ist zuerst von A.Adler in seiner Individualpsychologie benutzt worden).
f) Den Zeitraum zur Bildung dieses Lebensstiles nenne ich die „vorlogische Phase“, sie wird beendet, wenn ein bestimmtes individuelles Maß an Aktionspotenzialen im „geistigen“ Anteil des Gehirns erreicht ist. Es wird dann das Signal an die Gonadenentwicklung gegeben; die Geschlechtsreife, die im 6. Schwangerschaftsmonat unterbrochen wurde, setzt sich fort: die Pubertät beginnt (im Normalfall um das 8.Jahr nach der Geburt), zuerst noch inapparent für den/die BeobachterIn.
g) Da Impulse die Großhirnrinde (also unser Bewusstsein) erst nach Überprüfung und Verarbeitung im Frontalhirn (mit entsprechenden allgemeinen unterbewussten Folgen der Impulsweitergabe auch an andere Gehirninstanzen einschließlich Rückmeldungen) erreichen, können wir die bewussten Denkinhalte als Produkt dieser tendenziösen Apperzeption erkennen (siehe weiter oben das Zitat von Weiss 1993,S.4).
h) Durch die in c) implizit ausgesagte Verwechslung von Effekt und Intention, die jeder Mensch mehr oder weniger stark in seinen Lebensstil abhängig von seinen frühkindlichen Erfahrungen integriert, lässt sich der Entstehungszusammenhang von Lebensstilen auch so beschreiben:
Die unterbewusst intendierte Verwundungstendenz eines Erziehers wird vom Kind als von ihm selbst ausgelöst angesehen („es liegt an mir“ als erste, irrtümliche Umdrehung eines Tatbestandes) und unter Beteiligung seines Überlebenswillens beantwortet („es liegt jetzt an mir“ - ergänze „es zu ändern“- als zweite Umdrehung, die auf der ersten irrtümlichen aufbauend selbst irrtümlich ist; für irrtümlich benutzen wir an dieser Stelle der zweiten Umdrehung synonym das Wort aversiv.
Der Lebensstil ist ein Überlebensstil, da es um „leben“ und Tod ging. Dabei erscheint es dem Kind, als könne es den Effekt der Verhaltensweisen des schädigenden Erziehers selbst beeinflussen, intendieren. Noologisch heißt das, dass beide Umdrehungen für sich genommen die Verwechslung von Effekt und Intention zur Folge haben. Der Effekt der Verwundung wird als Folge eigener Intentionen gedeutet und die Einpassung mit der Folge geänderten Verhaltens der schädigenden Erzieher ebenfalls als Erfolg eigener Intention. Und darüber lernt das Kind auch sich zu verschweigen (und die Bedingungen dieser „Rhetorik des Schweigens“, siehe 12. Kapitel in Noosomatik Bd.I, 2.Aufl.). Es lernt über das Weglassen von ihm eigenen ursprünglichen Impulsen, sich in Sicherheit zu bringen.