Umgang (5. Aufl.), 3. Kapitel: 6. Zur Verwundung selbst
Der Mensch wird mit allem geboren, was er zum „leben“ braucht: Mit Mut, Hoffnung, Weite - deren physiologische Korrelate im Hirnstamm angesiedelt sind -, mit der Annahmefähigkeit vom Widerfahrnis von „lieben“ und der Liebesfähigkeit, die im Hippocampus und seiner Region ihre physiologischen Korrelate haben. Es ist zu beobachten, dass jene Anteile des Gehirns, die den Geist ausmachen, erst nach der Geburt aktiviert werden. Jene Gehirnanteile stellen einen „Zellhaufen“ dar, der erst durch Außenimpulse für die geistigen Tätigkeiten aktiviert und strukturiert wird.
6.1. Vor der Verwundung
Vor der Verwundung gibt es jene Phase, die wir die prätraumatische Phase nennen, in der Menschen sich für eine Sinnerfahrung öffnen. Diese Öffnung für Sinnerfahrung gehört zum Sein des Menschen; insofern brauchen wir auch unsere Existenzberechtigung nicht nachzuweisen; der Sinn widerfährt uns, wird uns geschenkt, ohne dass dafür etwas geleistet werden muss. Wir gehen also davon aus, dass es richtig ist, dass es uns gibt, und dass das Erfühlen dieses Richtigseins eine Erfahrung ist, die durch Verwundungserfahrungen eingeschränkt werden kann.
Einige Umgangsweisen der Eltern mit dem Kind zielen auf die Identifizierung von Sein und Selbstverständnis beim Kind. Das im genauen Wortsinne selbstverständliche Sein des Kindes ist ja dem Kinde selbst verständlich, wenn auch auf eine nicht geistige Art und Weise. Der Organismus organisiert eben auf physiologische und nicht auf psychologische Weise die Lebensäußerungen des Kindes. Diese Lebensäußerungen als selbstverständlicher Ausdruck des Seins dieses individuellen Kindes sind geistig-inhaltlich nicht fassbar und deshalb in der Regel das Gegenüber von Interpretationen bis hin zu der am meisten bekannten Fehldeutung, der Mensch sei was er tut (Identifizierung von Person und Verhalten).
Die Teilhabe des Menschen am Sein ist unmittelbar einsichtig: Kein Mensch ist das Sein. Das Selbstverständnis von Sein erschöpft sich ganz offenkundig im Menschen nicht. Seiendes hat also Teil am Sein, repräsentiert das Sein jedoch nicht.
Diese Teilhabe ist möglich, da das Sein an sich selbst teilgibt. Diese Teilgabe ist für das Sein selbstverständlich und nur ihm selbst, oder dem, was noch vor dem Sein gedacht werden kann, verständlich. Das bedeutet für unsere Wahrnehmung: Selbst wenn wir die Summe von allem Seienden erfassen könnten, hätten wir noch nicht das Sein erfasst. D.h.: selbst wenn wir die Summe aller Lebensäußerungen eines Kindes erfassen könnten, hätten wir das Sein eines Kindes trotzdem noch immer nicht erfasst,